Teil X



V. Diskussion



Bei den monolingualen Kindern liegen die durchschnittlichen Ergebniswerte

sowohl der verbal-kognitiven als auch der perzeptuell-kognitiven Aufgaben

zwischen den Ergebnissen der semibilingualen und der vollbilingualen Gruppe.

Somit ergeben sich die deutlichsten Unterschiede zwischen den semibilingualen

und den vollbilingualen Kindern zugunsten der letzteren.

Bemerkenswerterweise erzielten bei der jüngeren Gruppe die vollbilingualen

Kinder bei den irreführenden Aufgaben bessere Ergebnisse als die monolinguale,

obwohl sie im Schnitt etwas jünger waren und auch einen niedrigeren HSET-

Wert hatten.

Auch ist bei der Gruppenauswahl beachtet worden, daß sich die Kinder mö~

glichst nicht in ihren HAWIK-Werten und den HSET-Werten unterscheiden,

und sie stammen aus Familien mit vergleichbarem sozio-ökonomischen Status,

was wie in der Einführung beschrieben nicht bei allen Studien zur Bilingualität

der Fall ist.

Sicher hängt die Leistung eines Kindes beispielsweise beim Beurteilen von Sät~

zen von seiner Intelligenz und seiner Sprachbegabung ab. Aufgrund der Paralle~

lisierung der Gruppen bezüglich der unabhängigen Variablen HAWIK-Wert und

HSET-Wert kann man nun aber vermuten, daß die beobachteten Gruppenunter~

schiede durch die mangelnde bzw. unterschiedliche bilinguale Erfahrung der

einzelnen Teilnehmer zu erklären ist.

Um diese Tendenzen nachzuweisen und auch die Unterschiede zwischen vollbi~

lingualen und monolingualen Kindern bei den irreführenden Aufgaben statistisch

abzusichern, sind größere Untersuchungsgruppen erforderlich, insofern versteht

sich die vorliegende Arbeit als Pilotstudie. Bei der Untersuchung einer größeren

Stichprobe könnte man auch die einzelnen Aufgaben unter Zuhilfenahme der

erzielten Ergebnisse analysieren, um Žnderungen oder Ergänzungen vorzuneh~

men.

Die Ergebnisse meiner Untersuchung zeigen aber, daß die vollbilingualen Kinder

verglichen mit den monolingualen keine Nachteile bei den irreführenden Aufga~

ben haben, obwohl sie ja mit dem Erwerb zweier Sprachen beschäftigt sind und

somit eine schwierigere Aufgabe zu lösen haben als die monolingualen Kinder.

Das gleiche zeigte sich in der Tendenz bei den Ergebnissen des HSET und des

HAWIK-Tests, obwohl sie in meiner Untersuchung die unabhängigen Variablen

waren.

Genauso deutlich erkennt man aber auch die Tendenz, daß die Kinder der semi~

bilingualen Gruppe schwächere Leistungen bei den angewendeten Tests zeigen.

Die Vermutung liegt nahe, daß die semibilingualen Kinder im Vergleich mit den

vollbilingualen ihre mentale Aufmerksamkeit nicht so gut trainiert haben.


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Daraus leitet sich die Verpflichtung ab, möglichst viel über die Bedingungen in

Erfahrung zu bringen, die entscheidend dafür sind, ob ein Kind vollbilingual

oder semibilingual wird, und wenn möglich, während der bilingualen Erziehung

einen Rahmen zu setzen, der das Auftreten der Vollbilingualität begünstigt.

Eine sehr wichtige Rolle spielt dabei der sozio-kulturelle Hintergrund der Fa~

milie, wie ich oben (Kapitel 1) bei der Vorstellung der Typen von Bilingualität

bereits betont habe, und wie es sich aus der Analyse des Bilingualität-Frage~

bogens ergibt. Immer wieder habe ich bei meiner Arbeit mit bilingualen Fami~

lien beobachtet: wenn beide Sprachen, Deutsch und Spanisch, eine angemessene

Wertschätzung durch die Eltern erfahren, sind die besten Voraussetzungen für

ein additives Milieu gegeben, in dem sich am ehesten Vollbilingualität entwik~

keln kann. Während viele Faktoren, die für den Spracherwerb und das Heraus~

bilden der kognitiven Strukturen relevant sind, der gezielten Beeinflussung nur

schwer zugänglich sind (ökonomische Situation der Familie, Schule bzw. Kin~

dergarten usw.), ist es bei diesem Punkt anders. Eltern, die eine gemischtspra~

chige Ehe führen, können sich in Gesprächen (miteinander, mit anderen Eltern

oder auch mit einem psychologischen Berater) Klarheit über die Ziele einer

bilingualen Erziehung verschaffen und ihr Verhalten danach ausrichten.

Mein Eindruck wird auch von einer Studie von Jose R. Figueroa (1993) gestützt,

der nachgewiesen hat, daß bei Kindern sprachlicher Minderheiten sowohl der

Erwerb der (englischen) Majoritätssprache als auch die schulische Leistung all~

gemein stark davon abhängen, wie sehr sich die Eltern engagieren.

Aufgrund der hohen Korrelation mit dem Woodcock-Test hat sich mein Bilin~

gualitätsfragebogen zur Entscheidung als geeignet erwiesen, ob das entspre~

chende Kind semibilingual oder vollbilingual ist. Das Kriterium ist dabei relativ

streng, denn alle als vollbilingual eingestuften Kinder hatten nachher einen

Woodcock-Wert über 100, während etwa in der Untersuchung von Johnson

(1991) über Metapher-Interpretation schon Kinder mit einem Wert über 83 in

die bilinguale Gruppe aufgenommen wurden.

Cummins hatte 1977 die Frage untersucht, ob Bilingualität das divergente Den~

ken fördert, und war dabei zu ähnlichen Ergebnissen gekommen wie ich, daß

nämlich ein Teil der bilingualen Gruppe niedrigere und der andere Teil höhere

Ergebnisse erzielte als die monolinguale Vergleichsgruppe.

Zur Erklärung formulierte er (Cummins 1977) seine Schwellenhypothese:

"there may be a threshold level of linguistic competence which a bilingual

child must attain both in order to avoid cognitive deficits and allow the

potentially beneficial aspects of becoming bilingual to influence his cog~

nitive growth". (S.10)

Cummins ergänzt zu dieser Hypothese die Möglichkeit, daß für ein bilinguales

Kind zwei Schwellen existieren: wenn seine sprachliche Kompetenz die erste

Schwelle überschritten hat, hat es aufgrund seiner Zweisprachigkeit keine

Nachteile im kognitiven Bereich mehr zu erwarten, wenn seine Kompetenz die

zweite überschritten hat, sind Vorteile wahrscheinlich.

Cummins untersuchte wie gesagt die Fragestellung divergentes vs. konvergentes

Denken. Mit der Fragestellung Feldabhängigkeit vs. Feldunabhängigkeit habe ich

mit dem CEFT eine weitere Dimension des kognitiven Stils untersucht.

Aufgrund meiner Ergebnisse vermute ich, daß die Schwellenhypothese auch auf

den Bereich der irreführenden Aufgaben zutrifft: die sprachliche Kompetenz

bzw. der Bilingualitätsgrad ist bei der semibilingualen Gruppe so niedrig, daß

sie im Vergleich zur monolingualen Gruppe schlechter abschneidet. Umgekehrt

ist der Bilingualitätsgrad der vollbilingualen Gruppe so hoch, daß sie bei den

irreführenden Aufgaben eine höhere Leistung zeigt.

Man muß aber bei der Schwellenhypothese beachten, daß man sich die

"Schwellen" nicht als feste Werte vorstellt, die man genau bestimmen könnte.

Die Übergänge sind fließend und wie oben (Kapitel 1) beschrieben ist allein die

Messung von Bilingualität schon eine höchst schwierige Aufgabe.

Mit dieser Arbeit habe ich viele Fragen nicht abschließend klären können. Sie

stellt aber einen Mosaikstein in einem Bild dar, das Forscher spätestens seit

den 60er Jahren zusammenstellen, und aus dem man immer deutlicher ablesen kann,

daß Bilingualität keine Nachteile für die kognitiven Fähigkeiten eines Kinds

bedeuten muß, sondern ihm im Gegenteil häufig eine Bereicherung seines Denkens

mit sich bringt.

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