Teil VI
7 Das Modell von Bialystok
Ellen Bialystok verwirft ebenfalls die These, daß die Entwicklung der Sprache
sich einzig aufgrund angeborener innerer Mechanismen vollzieht. Auch sieht sie
Sprache nicht als unabhängig von anderen Formen des Wissens und anderen
Fertigkeiten.
Die Verbindung mit anderen Aspekten der Kognition besteht in dem, was sie
als "metasprachliche Bewußtheit" bezeichnet (metalinguistic awareness). Darun~
ter versteht man das Wissen um die Eigenschaften und die Struktur von Spra~
che, bzw. die Fähigkeit, darüber zu reflektieren.
In diesem Sinne benötigt ein Kind schon ein gewisses Maß an metasprachlicher
Bewußtheit, wenn es sich während des Sprechens selbst korrigiert, da es hier~
bei Sprache (seine eigenen Worte) zum Gegenstand einer verstandesmäßigen
Untersuchung macht.
Die Vermutung ist nun, daß bilinguale Kinder eine stärker analytisch geprägte
Orientierung gegenüber der Sprache gewinnen, da sie zwei sprachliche Systeme
aufbauen und verwalten müssen. Diese Idee der Objektifizierung der Sprache
geht auf Vygotsky zurück:
"The bilingual child learns to see his language as one particular system
among many, to view its phenomena under more general categories, and this
leeds to awareness of his linguistic operations." (Vygotsky 1962, S. 110)
Für Bialystok beinhaltet metasprachliche Kompetenz die beiden Dimensionen
Analyse (des sprachlichen Wissens) und Kontrolle (der sprachlichen Verarbei~
tung). Davon ausgehend definiert sie eine metalinguistische Aufgabe als eine
Aufgabe, die Anforderungen an diese beiden Komponenten stellt. Auf diese
Weise wird metasprachliches Bewußheit operationalisiert. Eine typische meta~
linguistische Aufgabe ist das Zählen von Wörtern in einem Satz. Ein Kind be~
nötigt für diese Aufgabe das sprachliche Wissen um die Grenze eines Worts
(Analyse), und es muß während des Durchgehens des Satzes die Bedeutung der
einzelnen Wörter und des Satzes nach Möglichkeit ignorieren, um auf die for~
malen Kriterien konzentriert zu bleiben, die für die Aufgabe relevant sind.
Andere Beispele sind das Wiederholen von strukturierten Unsinns-Sätzen, das
Finden von Reimen, das Korrigieren falsch gebildeter Sätze, das Finden von
Synonyme, das formale Definieren, das Finden von Zweideutigkeiten in einer
Aussage und die verbale Substitution.
Die beiden Verarbeitungskomponenten Analyse und Kontrolle sind für sie au~
ßerdem Motor des sprachlichen Fortschritts. Da sich sprachliches Können im
mündlichen, im schriftlichen und im metalinguistischen Bereich zeigt, folgert
Bialystok, daß bilinguale Kinder mit höherer metalinguistischer Bewußheit auch
in den Bereichen Lesen und Schreiben höhere Leistung zeigen müßten. Anderer~
seits müßte man anhand entsprechend konstruierter Aufgaben auch den Fall
nachweisen können, daß einer der beiden Aspekte, Analyse oder Kontrolle,
stärker entwickelt ist als der andere, wenn die Teilung der metalinguistischen
Bewußtheit in diese zwei bis zum einem gewissen Grad unabhängigen Dimensi~
onen gerechtfertigt ist.
Bialystok argumentiert, daß bilinguale Kinder, die in ihrer zweiten, schwächeren
Sprache Konversation betreiben, in höherem Maße Kontrolle über ihr in den
beiden Sprachen auf unterschiedlichem Niveau befindliches sprachliches Wissen
ausüben müssen. Auch das Wählen der Sprache, in der man mit jemanden situ~
ationsangemessen redet, stellt Anforderungen an die Verarbeitungskontrolle.
Mangelnde Kontrolle zeigt sich etwa bei Kindern, die Leseschwierigkeiten ha~
ben. Entweder konzentrieren sie sich zu sehr auf die Form und Lesen einen
Text fehlerlos vor, ohne seinen Inhalt zu erfassen. Oder sie stocken beim
Lesen, weil sie über die Bedeutung nachdenken, und ersetzen Wörter des Sat~
zes durch eigene, die zum Gesamtsinn des Satzes passen. Umgekehrt zeigen
gut lesende Kinder oft auch eine verbesserte Fähigkeit, die Art des Lesens an
den Stil des Geschriebenen anzupassen (ein Witz wird anders gelesen als eine
Gebrauchsanweisung!).
Lesen ist allerdings eine Aufgabe, bei der das Schwergewicht auf der Analyse
sprachlichen Wissens liegt.
Bialystok (1991) stellt die Anforderungen an Analyse und Kontrolle in den ver~
schiedenen graphisch durch Plazierung in einem kartesischen Koordinatensystem
so dar, daß entsprechend dem zeitlichen Verlauf des Erwerbs die Anforderun~
gen in beiden Komponenten steigen, wenn man vom mündlichen zum schriftli~
chen und weiter zum metalinguistischen Bereich geht. Dies ist in Abbildung 1
wiedergegeben:
Abbildung 1
hoch |Kontrolle
|
|
metalinguistisch
|
|
niedrig | hoch
_____________________|________________________
schriftlich| Analyse
|
|
mndlich |
|
niedrig |
Außer dem Vergleich der Bereiche kann man auf diese Weise auch Arten von
Aufgaben innerhalb eines sprachlichen Bereichs veranschaulichen, in Abbildung
2 ist dies für den hier besonders interessierenden metalinguistischen Bereich
gezeigt.
Abbildung 2
hoch |Kontrolle
|
|
Wrter zhlen
Verbalsubstitution |
|
niedrig | hoch
_____________________|________________________
Analyse
|
|
Fehler finden | Stze korrigieren
|
niedrig |
Bialystok argumentiert, daß bilinguale Kinder beim Sprechen eher die Kontrolle
der Sprachverarbeitung üben, während beim Lesen und noch mehr beim Schrei~
ben der Bereich Analyse von Wissen trainiert wird. So sollte man mit entspre~
chend konstruierten Aufgaben unterschiedliche Fortschritte bei Kindern fest~
stellen, die "mündlich" bilingual sind im Vergleich zu solchen, die zusätzlich in
zwei Sprachen lesen und schreiben können. Dies ist von Bialystok (1986b) expe~
rimentell gezeigt worden.
Eine Aufgabe, die man so abändern kann, daß die zur Lösung zu erfüllenden
Anforderungen an Analyse und Kontrolle variieren, ist Bialystoks "grammatica~
lity judgment task" (= Beurteilen von Sätzen).
Dabei gibt es zwei Gruppen von Sätzen, solche, bei denen Syntax und Semantik
kongruent (d.h. beides richtig oder beides falsch) sind, und solche, bei denen
sie nicht kongruent sind (Syntax oder Semantik korrekt, aber nicht beides).
Insgesamt gibt es also vier Typen von Sätzen, da es in jeder Gruppe zwei
verschiedene Möglichkeiten gibt.
Nach Bialystok (1986a) erfordert das Beurteilen der sinnvollen und wohlgeform~
ten Sätze (im weiteren Verlauf Typ I genannt) am wenigsten Analyse und Kon~
trolle. Ist der Satz sinnvoll, enthält aber einen Grammatikfehler (Typ III),
wächst die Schwierigkeit, weil höhere Anforderungen an den Bereich Analyse
gestellt werden, um den Fehler zu entdecken (wie in Abbildung 2 gezeigt,
stellt das Korrigieren der Sätze noch höhere Anforderungen). Sinnlose Sätze,
die aber nach den Regeln der Grammatik wohlgeformt sind, stellen wiederum
höhere Anforderungen an den Bereich Kontrolle.
Bei dieser Aufgabe, durchgeführt mit Kindern zwischen fünf und neun Jahren,
stellte Bialystok (1986a) fest, daß unabhängig vom Alter bilinguale Kinder in
Übereinstimmung mit ihrer Vorhersage höhere Punktwerte erzielten.
Zur weiteren Erklärung weist Bialystok (1991) darauf hin, daß bilinguale Kinder
mehr Erfahrung mit kommunikativen Strategien haben, verstanden als Lösungs~
versuche für das Problem, sich dem anderen mitzuteilen, ohne über die adäqua~
ten sprachlichen Ressourcen zu verfügen. In diesem Fall nämlich können Spre~
cher sich einerseits auf eine andere Weise ausdrücken, Synonyme für unbe~
kannte Wörter verwenden usw., andererseits können sie flexibel das sprachliche
System wechseln oder sich nonverbal verständlich machen. Die erste Strategie
stellt Anforderungen an Analyse sprachlichen Wissens, die andere mehr an
Kontrollmechanismen, da gezieltes Umlenken der eigenen Aufmerksamkeit auf
naheliegende Mittel der Kommunikation erforderlich ist. Beide Strategien soll~
ten also die metalinguistische Bewußtheit fördern, wenn sie von bilingualen
Kindern angewendet.
8 Vergleich der verschiedenen Erklärungsmodelle
Bilingualität kann auf der Grundlage jeder der skizzierten Theorien als Erfah~
rung angesehen werden, die die intellektuelle Entwicklung des Kindes beein~
flußt, was die Entwicklung und Organisation der mentalen Schemata betrifft.
Der von Bialystok betonte Aspekt "Kontrolle" entspricht bei Pascual-Leone dem
M-Operator, der die mentale Aufmerksamkeit gezielt den entsprechenden
Strukturen zuweist, und bei Johnson der Fähigkeit, trotz einer ablenkenden
Alternative die Lösung einer gestellten Aufgabe zu finden, d.h. durch eine
Strategie zur Bewältigung "irreführender" Aufgaben zu gelangen, während "Ana~
lyse" sprachlichen Wissens allgemeiner Analyse von gespeichertem Wissen, der
Fähigkeit zur Lösung "erleichternder" Aufgaben entspricht.
Dieses Erfordernis spiegelt anschaulich ein Multiple Choice Test wider, dessen
"Distraktoren" ja genau eine ablenkende oder irreführende Rolle haben.
Bei beiden Modellen ist die zentrale These, daß bilinguale Kinder den Einsatz
der kognitiven Ressourcen selektiv und zielgerichtet steuern, um auf verschie~
dene Repräsentationen analysierten Wissens (Bialystok) oder auf verschiedene
Schemata (Johnson) zuzugreifen.
Man kann die metasprachliche Bewußtheit als in allgemeinere kognitive Fähig~
keiten eingebettet betrachten. Bei der Untersuchung kognitiver Korrelate der
Bilingualität geht Bialystok nicht so weit wie Johnson, sondern beschränkt sich
auf die Frage, wie bilinguale Kinder Sprache verarbeiten oder etwas über die
Struktur von Sprache lernen.
Auf der anderen Seite gibt es auch Überlegungen, die über das von Johnson
entwickelte Modell hinausgehen. Auf der Basis von Vygotskys Theorie vermuten
Diaz und Klingler (1991), daß erstens der Kontakt mit zwei Sprachen zu einer
objektiven Sprachbewußtheit führt, die nicht nur grammatische Regeln, sondern
auch das Bewußtsein über die nichtkommunikativen Funktionen von Sprache
betrifft (vor allem beim Sprechen mit sich selbst), daß zweitens in der Folge
Sprache verstärkt als Werkzeug des Denkens eingesetzt wird und so eine
Selbstregulierungsfunktion wahrnimmt, und drittens bilinguale Kinder dadurch
bei der Lösung kognitiver Probleme im Vorteil sind, von allem bei Aufgaben,
die "nichtautomatisches Verarbeiten" erfordern.
Als Konsequenz wäre zu erwarten, daß bilinguale Kinder in allen Bereichen
kognitiven Funktionierens Vorteile gegenüber monolingualen Kindern haben
sollten, also etwa auch höhere IQ-Werte. Daß dies nicht der Fall ist, spricht
an dieser Stelle gegen das Modell von Diaz und Klingler.
Mit der Theorie von Bialystok lassen sich viele Forschungsergebnisse erklären,
die bilingualen Kindern Vorteile bei sprachlichen und metalinguistischen Aufga~
ben attestieren. Allerdings kann man aus den oben skizzierten Argumentations~
mustern ableiten, daß semibilinguale oder (marginal bilinguale) Kinder, die in
der zweiten Sprache deutliche Rückstände im Vergleich zur ersten haben, eben~
so oder eher mehr als die vollbilingualen (balanciert bilingualen) Kinder von
ihrer bilingualen Erfahrung profitieren müßten, was ihre Leistung bei metalin~
guistischen Aufgaben angeht. Dies wird von der Empirie aber nur unzureichend
gestützt, bei der Mehrzahl der Studien finden sich deutliche Unterschiede zwi~
schen semibilingualen Kindern und vollbilingualen Kindern zugunsten der letz~
teren.
Weiter ist Bialystoks Theorie in der bisherigen Form nicht geeignet, Leistungen
bilingualer Kinder bei kognitiven Aufgaben zu erklären, die nicht rein sprach~
lich-verbaler oder metalinguistischer Struktur sind.
Das Modell von Johnson ist umfassender und schließt auch Erklärungen für
beispielsweise perzeptuell-kognitive Leistungen ein.
Bialystoks "grammaticality judgment task" läßt sich auch mit den Konstrukten
aus Johnsons Theorie erklären, die ich oben vorgestellt habe. Das Beurteilen
von Sätzen erfordert ja beispielsweise, einen Satz wie "Die Katze bellt." als
richtig zu klassifizieren, da er grammatisch wohlgeformt ist. Der Inhalt des
Satzes ruft aber sofort den Impuls hervor, den Satz als falsch einzuschätzen,
insofern handelt es sich (auch von Bialystok als den schwierigsten betrachte~
ten) Typ um eine irreführende Aufgabe. Die Entscheidung, den Satz als falsch
anzusehen, ist nach Johnson eine Folge der Aktivierung infralogischer Struktu~
ren. Zur richtigen Lösung der Aufgabe ist es nötig, durch Einsatz des I- und
des M-Operators die mentale Aufmerksamkeit auf die logologische Struktur zu
konzentrieren. Oben wurde angeführt, daß bilingualen Kindern der Wechsel
zwischen infralogischem und logologischem Niveau leichter fallen könnte. Ent~
sprechend sollten sie sich eher vom Inhalt des Satzes lösen und sich auf die
Logik der Grammatik konzentrieren können. Durch die logologische Verarbei~
tung des Problems kommt das Kind zu der Erkenntnis, daß der Satz trotz
seines unsinnigen Inhalts richtig gebaut ist und deshalb gemäß der Instruktion
als richtig betrachtet werden muß. Ein Kind, das diese Aufgabe richtig löst,
muß nicht über mehr sprachliche oder grammatische Kenntnisse verfügen, es
muß nur durch geeignete Dezentrierungsstrategien den irreführenden Aspekt
der Aufgabe überwinden.
Zusammenfassend kann man sagen, daß trotz der hnlichkeit der vorgestellten
theoretischen Ansätze das Modell von Johnson im Vergleich zu denen von
Bialystok sowie von Diaz und Klingler mit der empirischen Datenbasis am
besten in Einklang steht.
Johnsons Konzept der irreführenden Aufgaben liefert ein griffiges Kriterium für
die Analyse von Aufgaben und zur Klärung der Frage, ob Vorteile bei bilingua~
len Kindern zu erwarten sind oder nicht. Es läßt aber ebenfalls noch Fragen
unbeantwortet, vor allem welche Faktoren es genau sind, die ein bilinguales
Kind eher in die Lage versetzen, die auftretenden kognitiven Konflikte in der
richtigen Richtung zu lösen. Wenn dies etwa die Erlebnisse sind, die Siegel
(1981) mental distanzierende Erfahrungen nennt, sollten sie für den Fall der
bilingualen Kinder so spezifiziert werden, daß sie der experimentellen Überprü~
fung zugänglich werden. So sollte auch geklärt werden, in welchen anderen
Zusammenhängen abgesehen von der Bilingualität diese Erfahrungen auftreten,
denn Johnson (1991) betont ja selbst, daß auch andere begünstigende Umstände
zu einer gesteigerten Fähigkeit führen können, mentale Aufmerksamkeit den re~
levanten Schemata zuzuteilen.
Ebenso wäre es wünschenswert, die Grenzen der positiven Einflüsse von Bilin~
gualität herauszuarbeiten, denn die bilinguale Erfahrung versetzt ein Kind ja
offenbar nicht zwangsläufig in die Lage, irreführende Aufgaben besser zu lösen,
als es dies ohne diese Erfahrung tun könnte.
Ich vermute, daß es emotionale und vor allem motivationale Aspekte sind, die
einerseits den erfolgreichen doppelten Erstspracherwerb bedingen und anderer~
seits die potentiellen Vorteile, die die bilinguale Erfahrung im oben beschriebe~
nen Sinne im kognitiven Bereich haben kann, für das Kind fruchtbar machen.